Tanka und Haiku: Die Liebe zur kleinen Form in der Poesie

Tanka und Haiku: Die Liebe zur kleinen Form in der Poesie
Tanka und Haiku: Die Liebe zur kleinen Form in der Poesie
 
Die japanische Versdichtung hat ihre ureigenste Form im 31-silbigen Kurzgedicht Tanka gefunden, wie es bereits in der Anthologie »Manyōshū« (um 760) vorherrschte und im mittelalterlichen »Shin-Kokinshū« (1205) zur höchsten Blüte gedieh. Diese Sammlung aristokratisch-höfischer Lyrik trug den Kern einer weiteren poetischen Verdichtung in sich.
 
Die meisten dieser reimlosen, nur rhythmisch gegliederten Tanka haben einen formalen und inhaltlichen Einschnitt nach dem dritten Vers (5 : 7 : 5 / 7 : 7). Daraus entstand der Anreiz, die drei ersten Verse (den Oberstollen) vorzugeben und die beiden letzten (den Anschlussstollen) von einer anderen Person dichten zu lassen. Dieses früh geübte poetische Spiel einer höfischen Gesellschaft war ein Ausgangspunkt der mittelalterlichen japanischen Kettendichtung (»renga«), bei der mehrere Personen in stetem Wechsel von Oberstollen (5 : 7 : 5) und Anschlussstollen (7 : 7) zahlreiche Strophen, 50, 100 oder gar 1 000, zu einer Strophenkette verbanden. Dabei waren strenge Regeln zu beachten, die von Rengameistern zur Wahrung der thematischen und sprachlichen Verknüpfung aufgestellt wurden. So war der siebzehnsilbige Oberstollen, der das umgreifende Thema des Renga zu nennen hatte, besonders herausgehoben und erhielt als wesentliches Merkmal eine jahreszeitliche Festlegung. Beispielsweise beginnt das Renga »Hundert Strophen der drei Sänger von Minase« (»Minase-sangin-hyakuin«, 1488):
 
Yuki-nagara
 
Yamamoto kasumu
 
Yūbe-kana
 
Schnee liegt hoch,
 
doch am Fuße der Berge herrscht Nebel;
 
Abend ist es.
 
Der erste »Sänger« wählt das Thema »Frühlingsbeginn« (»kasumu« bezieht sich auf den Frühlingsnebel); der zweite konkretisiert das Thema und erweitert das Bild im ersten Anschlussstollen:
 
Yuku mizu tōku
 
Ume niou sato
 
Fließendes Wasser in der Ferne,
 
Pflaumenblüten duften im Dorf.
 
Nun folgen im ständigen Wechsel 5 : 7 : 5-Strophen und 7 : 7-Strophen, hier in der Gesamtzahl 100.
 
Neben dieser kunstvollen klassischen Kettendichtung, die seit dem »Tsukubashū« (1356), einer Sammlung musterhafter Strophenpaare, einen grundlegenden Leitfaden besaß, lebte eine Tradition des kurzweiligen poetischen Spieles fort, bei dem die humorige, nicht selten auch parodistische Aussage typisch ist. Solche Renga waren als »humorige Kettengedichte« (»haikai-no-renga«) populär. So lautet in einer frühen Sammlung von Strophenpaaren aus dem Jahre 1495 mit dem parodistischen Titel »Neu ausgewähltes Hunde-Tsukubashū« das erste Paar:
 
Kasumu-no koromo
 
Suso-wa nurekeri
 
Am Gewand aus Frühlingsnebel
 
ist der Saum durchnässt.
 
Saohime-no
 
Haru tachi-nagara
 
Shito-wo shite
 
Die Frühlingsgöttin lässt
 
bei Frühlingsanbruch
 
ihr Wasser ab.
 
Die Drastik der Gegenüberstellung im Ober- und Unterstollen -, vorgegeben ist bei solchen Einzelpaaren die 7 : 7-Strophe -, zeigt die witzige und parodistische Note des Haikai-no-renga in nahezu programmatischer Deutlichkeit.
 
Wohlgelungene Stollen solch unorthodoxer Kettengedichte im metrischen Rahmen 5 : 7 : 5 führten zu der verselbstständigten Gattung der siebzehnsilbigen Haiku, der wohl kürzesten lyrischen Form in der Weltliteratur. Diese Verse hoben sich thematisch wie auch sprachlich von der aristokratisch eleganten, nicht selten aber auch floskelhaft erstarrten Renga-Dichtung ab. Ursprünglich hießen diese Verse »haikai-no hokku« (humorige Einleitungsverse); seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hat sich die verkürzte Namensform »haiku« durchgesetzt.
 
Betrachtet man den ungezwungenen, oft derben und lyrikfernen Ausdruck mittelalterlicher Haiku, die Alltäglichkeit ihrer Thematik und Sprache, so spiegelt sich darin das Vordringen einer neuen, bürgerlichen Trägerschicht, die sich allenfalls formal am Renga des Adels orientierte. Im 16. und 17. Jahrhundert entwickelte sich das Haiku zur beliebtesten Verskunst im Lande, die in verschiedenen Schulrichtungen gepflegt wurde.
 
Einer Verflachung der Haikai-Dichtung, einer Überfrachtung mit komischen Motiven und einer Überbetonung spielerischer Elemente wirkte im 17. Jahrhundert Matsuo Bashō entgegen, der mit seinen Schülern das Haiku der Banalität entkleidete und es auf die Höhe klassischer Lyrik hob. Bashō war in seiner Lebensführung und Weltsicht stark vom Zen-Buddhismus geprägt, literarisch hoch gebildet und stand als Wandermönch in einem innigen Verhältnis zur Natur. Es ist ihm gelungen, im engen Rahmen des Haiku »zeitlos Unwandelbares« und »zeitbedingt sich Wandelndes« (»fukō-ryūkō«), Erlebtes und Empfundenes dichterisch in äußerster Prägnanz zu erfassen. Angesichts der »kleinen Form« dieser lyrischen Gattung musste oft durch Aussparen und Andeuten der Sinngehalt der poetischen Aussage verschlüsselt bleiben.
 
Die herausragende Rolle des Oberstollens und dessen Bindung an ein Jahreszeitenmotiv galten bei aller thematischen Freiheit auch für die Bashō-Schule, deren Stil prägend für die weitere Haikai-Dichtung blieb. Die repräsentative Haikai-Sammlung dieser Schule »Sarumino« (»Das Affenmäntelchen«, 1690/91) enthält das folgende Haiku, das Bashō beim Anblick eines Affen während einer Gebirgswanderung im Spätherbst gedichtet haben soll:
 
Hatsu-shigure
 
Saru-mo komino-wo
 
Hoshige-nari
 
Erster Sprühregen.
 
Auch der Affe scheint sich ein Regenmäntelchen
 
zu wünschen.
 
Bashō hat die Reiseeindrücke von seinen Wanderungen aus dem letzten Lebensjahrzehnt in tagebuchähnlichen Aufzeichnungen mit zahlreich eingestreuten Haiku, auch solchen seiner Begleiter, niedergelegt. Diese Aufzeichnungen zählen zu den schönsten »Texten im Haikai-Stil« (»hai-bun«), vor allem das »Oku-no hosomichi« (»Auf schmalen Pfaden durch das Hinterland«, 1689). Sie knüpfen an die lange Tradition der japanischen Reistagebücher an und haben ihrerseits viele Nachfolger gefunden. Auch Bashōs letztes Haiku bleibt im Bild des Wanderns:
 
Tabi-ni yande
 
Yume-wa kareno-wo
 
Kake-meguru
 
Bin krank, des Reisens müde,
 
doch auf verdorrtem Feld
 
irrt noch mein Traum umher.
 
Die Poetik der Haikai-Dichtung ist von Bashōs Schülern formuliert und weitergetragen worden. Sein Geist ist lebendig geblieben in der von ästhetischen Idealen getragenen Dichtkunst späterer Haikai-Meister wie Yosa Buson oder Kobayashi Issa, dessen Naturverbundenheit und leidvolles Schicksal sich in einer empfindungstiefen Erlebnisdichtung widerspiegelt. So schrieb Kobayashi Issa zum Tod seiner kleiner Tochter:
 
Tsuyu-no yo-wa
 
Tsuyu-no yo-nagara
 
Sari-nagara
 
Das Leben vergänglich wie Tau,
 
vergänglich wie Tau mag es sein,
 
so mag es sein -, aber. ..
 
Neben dieser Dichtkunst der Bashō-Schule lebte aber auch die witzige, satirische Variante fort, die sich großer Beliebtheit beim Stadtbürgertum erfreute und sogar in öffentlichen Dichtwettbewerben massenhaft produziert wurde: zu 7 : 7-silbigen Themenversen, von Haikai-Meistern ausgeschrieben, mussten 5 : 7 : 5-silbige Anschlussverse gedichtet werden. Einer der am meisten geachteten »Zensoren« (»tenja«) solcher Kurzgedichte war ein gewisser Karai Senryū (* 1718, ✝ 1790), von dem diese Dichtgattung den Namen Senryū erhielt. Weit entfernt von den Regeln der Bashō-Schule glichen diese Senryū nur noch formal den Haiku. Sie geißeln mit Vorliebe die Schwächen der Mitmenschen, hier des Stadtbürgertums der Edo-Zeit, so in Senryū wie:
 
Yakunin-no
 
Ko-wa niginigi-wo
 
Yoku oboe.
 
Ein Beamtenkind
 
merkt sich leicht,
 
die Hände auf und zu zu machen.
 
 
Nusubito-ni
 
Aeba tonari-de
 
kenarugari
 
Wer vom Dieb
 
wird heimgesucht, wird vom Nachbarn
 
noch beneidet
 
(um den ehemaligen, nun gestohlenen Besitz).
 
Nach dem Werk von Kobayashi Issa erhielt die Haikai-Dichtung im 19. Jahrhundert keine neuen Impulse mehr und verfiel in konventionelle Erstarrung. Erst der Dichter und Kritiker Masaoka Shiki (* 1867, ✝ 1902), der die Bezeichnung »haiku« einführte, erneuerte die Haikai-Dichtung im Sinne einer Erlebnisdichtung. In der von ihm gegründeten Zeitschrift »Hototogisu« (»Der Kuckuck«) erhielt das modernisierte Haiku ein wirkungsvolles Forum. Seither wird das Haiku mit Begeisterung in allen Schichten der japanischen Bevölkerung gepflegt und in zahlreichen Veröffentlichungen und in Hunderten spezieller Zeitschriften publiziert.
 
Prof. Dr. Bruno Lewin
 
 
Elisseeff, Danielle und Elisseeff, Vadime: Japan. Kunst und Kultur. Ins Deutsche übertragen von Hedwig und Walter Burkart. Freiburg im Breisgau u. a.21987.
 Kato, Shuichi: Geschichte der japanischen Literatur. Die Entwicklung der poetischen, epischen, dramatischen und essayistisch-philosophischen Literatur Japans von den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus dem Japanischen übersetzt von Horst Arnold-Kanamori u. a. Bern u. a. 1990.

Universal-Lexikon. 2012.

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